Die Zörbiger Saftbahn

Pressemeldung vom 23.02.2011


Am Bahnhof gestrandet

"Der Zug nach Leipzig hat 80 Minuten Verspätung. Grund hierfür ist der Streik der Lokführer-Gewerkschaft", schallt es - obwohl die Tafel noch andere, kürzere Zeiten anzeigt - durch die Lautsprecher im Bitterfelder Bahnhof. Es ist kurz nach 10 Uhr. Vor mehr als zwei Stunden endete der Streik der Lokführer, dennoch lassen sich die Auswirkungen des zweistündigen Arbeitsausstandes noch immer an den Anzeigetafeln ablesen. "Der Zug nach Magdeburg hat 120 Minuten Verspätung" oder "Der Zug nach Delitzsch verspätet sich um 60 Minuten", raunt es durch die Reihen der gestrandeten Passagiere.
Auch Salome Pfendt kommt derzeit weder nach Halle, wo sie eine Lehre als Physiotherapeutin absolviert, noch zurück nach Wittenberg, wo sie wohnt. "Ich bin seit 6.48 Uhr unterwegs. Die ersten drei Züge sind ausgefallen, der vierte hat mich nach Bitterfeld gebracht. Hier sitze ich nun fest", sagt die Auszubildende. Seit fast vier Stunden tingelt die junge Frau bei knackigen zehn Grad Kälte nun schon umher, aber Antworten oder Auskunft, ob und wie es nun weiter geht, bekommt sie nicht.

Auch die Mitarbeiterin im "Reisezentrum" kann da nur bedingt weiterhelfen. "Ich bin heute selbst wegen der Streiks zu spät zur Arbeit erschienen", sagt sie. So wie viele Pendler, Reisende und Bahnmitarbeiter scheint sie ebenfalls über die massiven Auswirkungen des Streiks überrascht zu sein. "Ich schätze, dass hier momentan immer noch 200 Passagiere auf ihre Anschlusszüge warten." Doch wie viele Züge kurz nach 10.30 Uhr noch betroffen sind, kann sie nicht sagen. Nur soviel: "Die Deutsche Bahn ist kulant und erstattet Geld zurück und schreibt Fahrkarten um." Darüber können zwei ältere Damen aus Dessau nur ungläubig den Kopf schütteln. "Seit 7.52 Uhr sind wir unterwegs. Eigentlich wollten wir nach Leipzig zu einem Arzt. Doch jetzt stecken wir fest", sagt die eine Dame. Die andere meint: "Wir bekommen zwar das Geld von Bitterfeld nach Leipzig erstattet, doch auf den Kosten für die Fahrt von Dessau hierher bleiben wir sitzen - obwohl wir unser eigentliches Reiseziel nicht erreicht haben."

Sowohl die beiden Damen aus Dessau als auch die Auszubildende Salome Pfendt aus Wittenberg haben mittlerweile sowohl von dem Streik als auch von der Bahn genug. Eigentlich wollte die Lokführer-Gewerkschaft mit der Arbeitsniederlegung einen Flächentarif für die 26 000 Lokomotivführer in Deutschland und in allen Verkehrssparten einfordern, um ein einheitliches Mindesteinkommen zu erreichen. Doch bei den wirklich Leidtragenden - also den Passagieren - stößt das auf wenig Gegenliebe. "Der Tarifstreit wird auf dem Rücken der Reisenden ausgetragen - egal ob man einen wichtigen Arzttermin hat oder schlichtweg zur Arbeit muss", meint die Dame aus Dessau.

Auch Mechthild Kehling aus Gräfenhainichen und Albina Wehmeier aus Wittenberg stoßen in dieses Horn. "Wir beide arbeiten in Halle", sagt Mechthild Kehling, und Albina Wehmeier legt nach: "Wir stehen hier und wissen nichts. Wenn wir wenigstens richtige Informationen bekommen würden. Doch nicht einmal das funktioniert."

Das können auch Inge Plahusch und Gisbert Meißner bestätigen. Beide arbeiten in der Bahnhofmission, beide sind Augenzeuge für das Tohuwabohu, das hier seit Stunden herrscht. "Am Morgen standen die Menschen überall - auf den Bahnsteigen, in der Bahnhofshalle oder in den Geschäften. Da waren Pendler, da waren aber auch ganze Schulklassen, die nicht mehr weg kamen und nicht mehr weiter wussten", sagt Gisbert Meißner. "Durch die Lautsprecher wurden andere Informationen verbreitet als an den Anzeigetafeln zu lesen waren. Doch so oder so - die Züge kamen nicht. Und wenn dann doch einmal einer fuhr, dann am falschen Bahnsteig. Es war das pure Chaos." Schon in den frühen Morgenstunden habe man die Pendler auf die Bahnhofsmission und die Angebote aufmerksam gemacht. "Doch die meisten trauen sich vom Bahnsteig nicht weg, weil sie denken, dass ihr Zug noch jeden Moment kommen könnte", meint Inge Plahusch. Und noch etwas haben die beiden beobachtet: Trotz des zweistündigen Streiks waren weder streikende Lokführer noch Transparente zu sehen.

Pressebild    
Foto: ANDRÉ KEHRER (MZ)
Bei minus zehn Grad Celsius warteten am Dienstag die Reisenden über Stunden an den Bitterfelder Bahnsteigen.
   

Mitteldeutsche Zeitung, Bitterfeld/MZ, DETMAR OPPENKOWSKI, Ausgabe 23.02.2011

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