"Saftbahn" bestärkt regionale Wirtschaftsstruktur
Bahnstrecke Bitterfeld – Stumsdorf
Auf der im Jahr 1897 eröffneten und gut 20 Kilometer langen Verbindungsbahn zwischen Bitterfeld und Stumsdorf herrschte mehr als acht Jahrzehnte ein reger Reise- und Güterverkehr. Für Berufspendler in das Kohle- und Chemierevier von Bitterfeld und Wolfen, aber auch für zahlreiche Landwirtschaftsbetriebe sowie Tagebau- und Industrieunternehmen galt die Nebenstrecke als unverzichtbar. Nach 1990 kam der Güterverkehr gänzlich zum erliegen der zwischen 1994 und 1996 nochmal kurz auflebte; das Fahrgastaufkommen war zeitweilig nahezu bedeutungslos. Dennoch entschied sich das Land Sachsen-Anhalt und die Deutsche Bahn für den Erhalt des Personennahverkehrs auf dieser Linie. Taktfahrpläne und zeitgemäße Triebwagen der Baureihe 628/928 waren bis Anfang 2000 auf der Bahnlinie anzutreffen. Mit dem Einsatz der Triebwagenbaureihe 771/772 gab es allerdings einen Rückschritt in Punkto Reisekomfort.
Nach dem Regierungswechsel im Jahr 2002 sah sich die CDU-Landesregierung des fast bankroten Bundeslandes gezwungen nach Sparmöglichkeiten zu suchen. Gefunden hatte man unter anderen 13 Nebenstrecken deren Reisezüge oft ohne Fahrgäste fuhren. Dazu gehörte auch die "Saftbahn" und weitere 350 Streckenkilometer die zum 1. Oktober 2002 ihren Personenverkehr verloren. Zum nostalgischen Ambiente fuhren bis zur Abbestellung des Personennahverkehrs die Triebwagen der Baureihe 771/772 die zum Teil im Stundentakt zwischen der Kreisstadt und des Knotenpunktes Stumsdorf pendelten. Die Bahnstrecke liet allerdings nicht so stark unter dem Fahrgastschwund wie die anderen Nebenbahnen in Sachsen-Anhalt. Gutachten ergaben ein Potential von 500 Reisendenkilometer pro Kilometer Betriebslänge. Das nach Auffassung des Landes zu geringe Reisendenaufkommen von 183 Reisendenkilometer pro Kilometer Betriebslänge rechtfertigte keinen Betrieb der Strecke für den Personenverkehr. Allerdings investierte die Deutsche Bahn AG in die Bahnstrecke kaum, sodass die Züge aufgrund zahlreicher Langsamfahrstellen nicht mehr konkurrenzfähig zum Individualverkehr waren.
Mangels Investitionen nicht mehr konkurrenzfähig
Mit der Streckenabbestellung schien das Schicksal dieser einst bedeutenden und strategisch wichtigen Bahnlinie beschlossen. Im November 2002 tauchte die "Saftbahn" jedoch wieder schnell in den Medien auf. Ein bis dahin im Bau befindliches Brückenbauwerk der neuen Bundesstraße 183n, die bei Sandersdorf die Gleise überspannen sollte, wurde plötzlich in Frage gestellt. Kurze Zeit später, verhängte das sachsen-anhaltinische Verkehrsministerium einen einmonatigen Baustopp, da man nach der Streckenausschreibung neu entscheiden wollte. Alternativ hatte man die Demontage der Gleise in diesem Bereich vorgeschlagen, um die 620.000 Euro teure Brücke zu sparen, wodurch aber eine Vertragsstrafe fällig gewesen wäre. Im Dezember 2002 ging der Brückenbau weiter, da sich drei Bahninteressenten; Regiobahn Bitterfeld, Deutsche Regionaleisenbahn und SachsenBahn auf die Streckenausschreibung meldeten. Der Steuerzahlerbund kritisierte in seinem Schwarzbuch den Bau der Brücke über diese Strecke als Steuerverschwendung, die PRO Bahn nicht unkommentiert lies.
Güterkunde da – Bahn weg?
Kurz darauf keimten neue Hoffnungen auf, als die Sauter Gruppe Ende 2002 im Zörbiger Gewerbepark "Thura Mark" eine Großinvestition startet und eine Bioethanolanlage (Mitteldeutsche BioEnergie GmbH -MBE-) errichten will. Dazu müssen große Mengen an Rohstoffen, vor allem Getreide, antransportiert und das Endprodukt, hochkonzentrierter Bioalkohol, abtransportiert werden - insgesamt mehr als 300 000 Jahrestonnen.
Da der Bau der Anlage im März 2003 begann und die Bahnbewerber noch kein Übernahmeangebot zur Bahnstrecke erhielten, organisierte PRO Bahn zwei Spitzengespräche mit Vertretern der DB Netz und Zörbiger Stadtverwaltung, um einer schnellen Entscheidung Nachdruck zu verleihen. Die danach erfolgten Bahnangebote, konnten die Eisenbahnunternehmen aber nicht überzeugen die Bahnstrecke zu übernehmen, da den Ausgaben kaum Einnahmen gegenüber standen. So sollten Bundesmittel für getätigte Instandhaltungsmaßnahmen von über 820.000 Euro zurückgezahlt und jährliche Pachtzinsen von 18.600 Euro aufgebracht werden.
Für die Regiobahn Bitterfeld zum Beispiel war die Übernahme deshalb kein Thema gewesen. Sie hatte aber angekündigt zusammen mit den Kommunen das Know-how bereitzustellen. Die SachsenBahn beharrte auf ihrer Forderung, die Strecke nur zusammen mit der Bahnlinie Bad Schmiedeberg - Bad Düben - Eilenburg zu übernehmen. Die Signale für eine Wiederbelebung standen somit weiterhin auf rot.
Stadt Zörbig tritt ein
Nun stieg die Stadt Zörbig selbst ins Boot, denn massive Verkehrsprobleme würden auftreten, wenn alles über die Straße transportiert werden müsste. Daraufhin folgten Prüfungen, ob eine Streckenübernahme in kommunale Beteiligung möglich wäre.
Die Bahn AG gewährte unterdessen Aufschub und teilte gegenüber der Stadt mit, dass sie bis Juni 2004 Gleise, Signale und andere technische Anlagen nicht abbauen wird. Das Eisenbahnbundesamt genehmigte im Februar 2004 die beantragte Streckenstilllegung.
Gespräche zwischen den sachsen-anhaltinischen Wirtschaftsminister Rehberger, der MBE GmbH und der Kommune zur Wiederbelebung der "Saftbahn" folgten und ergaben, dass nur kommunale Interessen gefördert werden könnten, dies aber mit einem privaten Betreiber zu lösen, scheiterte.
Zum 1. August 2004 vollzog die DB Netz ihre Stilllegungspläne und begann wenige Woche später im Bahnhof Stumsdorf die Ein- und Ausfahrsignale der "Saftbahn" abzubauen. Ein Wettlauf gegen die Zeit!
Am 1. Dezember wurde nach einem entsprechenden Beschluss des Stadtrates die Zörbiger Infrastruktur Gesellschaft mbH (ZIG) als 100-prozentige Tochter der Stadt Zörbig gegründet.
Mit der DB Netz wurde ein Pachtvertrag für die Strecke zwischen Grube Antonie und Stumsdorf abgeschlossen. Am 15. Dezember 2004 genehmigte das Landesverkehrsministerium die Betreibung der Bahnstrecke, sodass am 1. Januar 2005 die wirtschaftlichen Tätigkeiten beginnen konnten.
Status Anschlussbahn
Erste Aufgabe ist die Ertüchtigung der Gleisinfrastruktur als Status einer "Anschlussbahn". Man wählte diese Möglichkeit, weil die technischen Anforderungen niedriger sind und sich der Bahnverkehr kostengünstiger und attraktiver gestalten lässt.
Ein beauftragtes Ingenieurbüro legte für eine Gleissanierung die ersten Arbeiten fest, die zwischen Februar und März 2005 ausgeschrieben waren. Sie umfasste zunächst den Rückbau von maroden und nicht mehr benötigten Weichen im Bahnhof Sandersdorf und den Neubau von Einfahrweichen in die Gewerbegebiete Zörbig und Heideloh. Der Umbauprozess soll zwischen April und Mai 2005 vonstatten gehen. Die weiteren Arbeiten, wie zum Beispiel die teilweise Gleis- und Oberbauerneuerung, die Profilierung der Gräben und Anpassung der Bahnübergänge einer Anschlussbahn, werden sich über das gesamte Jahr 2005 erstrecken. Daher kann die Bahninfrastruktur zwischen Grube Antonie und Zörbig "Thura Mark" in diesem Jahr noch nicht im vollem Umfang genutzt werden. Um die Investitionsrückstände zu beseitigen sind die Gesamtkosten für die Streckenertüchtigung auf 2 Millionen Euro beziffert, wovon ca. 60% aus dem Fördertopf des Landes Sachsen-Anhalt kommen. Weitere Teile sind mit Verträgen der Firmengruppe Sauter und weiteren potentiellen Nutzern abgedeckt. Diese sichern zum großen Teil die Betriebskosten, sodass sich das Risiko für die Stadt in überschaubaren Grenzen hält. Die Stadt Zörbig erhofft sich vom Streckenangebot weitere Interessenten. So wird zum Beispiel am Gewerbepark Heideloh eine Weiche in das Gleis eingebaut, um den dortigen Unternehmen einen Anschluss zu ermöglichen.
Bei der MBW ist der Gleisanschluss auf dem Werksgelände bereist vorhanden und ausgebaut. Dort wird dringend auf die Inbetriebnahme der Strecke gewartet, da die Großkunden die Lieferung per Kesselwagen fordern. Schon im zweiten Quartal 2005 soll der erste Zug auf der Bahnstrecke fahren.
Über den glücklichen Ausgang ist Sebastian Herbsleb vom Fahrgastverband PRO BAHN Mitteldeutschland, der sich seit 1997 für die Bahnlinie engagiert, sehr froh. "Die Rettung der Bahn ist nicht nur für die Region ein toller Erfolg. Der Einsatz der Vertreter der Stadt Zörbig und der Firmengruppe Sauter stellt somit die Verwirklichung beiderseitigen Interesses dar: zum einen die unternehmerischen Interessen sowie andererseits das städtische Interesse an Wirtschaftsentwicklung und die Sicherung der Lebensqualität für die Anwohner durch ökologisch sinnvolle Infrastruktur. Nach schwierigen und geduldigen Verhandlungen der Beteiligten mit der öffentlichen Hand und der Deutschen Bahn Ag wurde letztendlich das unternehmerische Konzept auch durch das Mitwirken der kommunalen Entscheidungsträgern der Stadt Zörbig gestützt und getragen", gibt Herbsleb die Kraftanstrengungen kurz wieder.
PRO BAHN setzt sich vor Ort ein
Für PRO Bahn geht der Einsatz vor Ort weiter. Da die Bahnstrecke vorerst nur zwischen Bitterfeld und Zörbig "Thura Mark" befahren wird, sind weitere Bemühungen für eine Wiederbelebung des restlichen Streckenabschnitts nach Stumsdorf wichtig. Problematisch ist auf dieser Strecke die technische Erneuerung von sechs Bahnübergängen, die sich im Zörbiger Stadtgebiet befinden. PRO BAHN hat hierfür bereits kostengünstige Lösungen für die Umrüstung vorgeschlagen. Gelingt es diesen Abschnitt befahrbar zu machen, wären auch Personensonderfahrten (auch auf einer "Anschlussbahn" möglich) zu den jährlichen und traditionsreichen Veranstaltungen auf dem ritter- und Klostergut Mößlitz denkbar.
Der Fahrgast, PRO BAHN Zeitung 2/05, Mai - Juni 2005