Reisende sind hier in guter Obhut
Die Bahnhofsmissionen begehen bundesweit ihren Aktionstag
Punkt 8.20 Uhr stehen sie normalerweise auf dem Bahnsteig. Da hält der IC, der von Halle kommt und nach Stralsund fährt, in Bitterfeld. Und da sind die Mitarbeiter der Bahnhofsmission gefragt. Sie helfen Passagieren beim Umsteigen und sind da, wenn Menschen im Rollstuhl ihre Hilfe brauchen, wenn junge Mütter mit kleinen Kindern, ihrem Gepäck und dem Kinderwagen im Umsteige-Stress überfordert sind oder älteren Leuten der Koffer zu schwer ist, wenn Ausländer ratlos der Lautsprecherdurchsage lauschen oder ihnen der Fahrplan ein Rätsel ist. Dann wissen die Frauen und Männer in den tiefblauen Fleece-Jacken sofort, was zu tun ist.
Doch am deutschlandweiten Tag der Bahnhofsmission, der am Sonnabend stattfand, gab es für das Team um Jörg Vibranz einfach mal frei. Das heißt, die fünf Mitarbeiter der Bitterfelder Mission hatten am Sonnabend zwar keinen Dienst auf den Bahnsteigen, wohl aber in ihren Räumen. Dort gaben sie einen Einblick in ihre Arbeit. Und die erschöpft sich nicht bei der Hilfe auf dem Bahnsteig. So bieten die Mitarbeiter Aufenthalte in ihren Räumen an, falls der Zug weg und die Kälte in der Bahnhofshalle groß ist. Sie bieten Gespräche an und auch einen heißen Tee. Sie geben Auskünfte und manchmal auch tröstende Worte für Menschen, die die einfach mal brauchen. "Von manchen Leuten", sagt Karin Humyn, "kennt man schon ein Stück ihres Lebens."
Die Bahnhofsmission wurde vor 115 Jahren im Berliner Ostbahnhof gegründet. Ursprünglich mit dem Ziel, Frauen Schutz und Hilfe zu bieten, die mit der Industrialisierung vom behüteten Land in die pulsierenden Städte zogen. Heute ist sie eine ökumenische Hilfsorganisation für jedermann mit kostenlosen Anlaufstellen. Sie ist auf rund 100 Bahnhöfen in Deutschland, davon fünf im Osten, aktiv. Seit dem vergangenen Jahr auch wieder in Bitterfeld, nachdem 1956 die DDR-Behörden die Bahnhofsmissionen in Ostdeutschland geschlossen hatten. "Der Behindertenverband hatte sich sehr engagiert, dass in Bitterfeld wieder eine Bahnhofsmission eingerichtet wird. Und die Arge hat für fünf Mitarbeiter über zunächst drei Jahre die Möglichkeit geschaffen, hier arbeiten zu können", sagt Vibranz, Leiter der Einrichtung.
Zuvor gab es das Projekt "sozialer Bahnhofdienst", das über Arge und Bitterfelder Qualifizierungs- und Projektierungsgesellschaft (BQP) lief. "Das war sehr gut und sollte fortbestehen. So hat sich die Kirche dessen angenommen. Wir sind sehr froh darüber, wie alles gelaufen ist." So sei eine kontinuierliche, verlässliche Arbeit möglich, stellt Viebranz fest. Dass die hier gebraucht wird, bestätigt auch Birgit Richter, die Mitarbeiter und Einsätze koordiniert.
Rund 30 Kontakte im Durchschnitt registriert sie an einem Tag. Von 8 bis 18 Uhr sind Missions-Mitarbeiter täglich außer dem Wochenende bei jedem Zug, der ankommt, auf dem Bahnsteig. "Natürlich ist auch jemand von uns da, wenn außerhalb dieser Zeiten Hilfe, die bei einer Bahnhofsmission angemeldet werden muss, gebraucht wird", erklärt Birgit Richter. Die Benachrichtigung erfolgt auf dem ganz kurzen Weg - über eine Zentrale, die die Aufträge verteilt und koordiniert. "Da kann nichts schief gehen", sagt sie.
Die ehemalige Lehrausbilderin, die wie auch andere Kollegen, sich zur Fachkraft für Sozialwesen fortgebildet und den Seniorenbegleiter-Abschluss bei der Freiwilligenagentur "Mehrwert" gemacht hat, ist seit Eröffnung der Bitterfelder Bahnhofsmission dabei. Für sie ist es eine schöne Arbeit, sagt sie. Auch Karin Humyn, Evelyn Müller, Petra Gerst und Jürgen Heinecke finden in dieser Arbeit Freude und Erfüllung. Es ist der Umgang mit den Leuten, das Gefühl, wirklich Hilfe geben zu können.
"Heute ist ja Wärme nicht mehr überall selbstverständlich. Das Schöne ist: Man kriegt Dank zurück", fasst es Birgit Richter zusammen. Und Jörg Vibranz sagt: "Es ist nicht immer einfach, bei Wind und Wetter raus zu müssen. Man kann nicht reich werden, aber es ist eine sinnvolle Arbeit. Und das macht einen schon zufrieden." Mit Freude erkennen die Mitarbeiter, dass sich nach und nach auch hiesige Firmen engagieren. So können sie dank der Unterstützung zweier Bitterfelder Bäckereien seit einigen Wochen von Dienstag bis Freitag jeweils von 9.30 bis 10.30 Uhr eine Teestunde anbieten.
Die Bahnhofsmission Bitterfeld ist angeschlossen an die Konferenz kirchlicher Bahnhofsmissionen. Dieses Netzwerk garantiert Weiterbildungen und eine effektive Zusammenarbeit - einen "kurzen Draht". In Mitteldeutschland, das ist auf einer großen Karte zu sehen, die in den Räumen der Mission hängt, sind einige Bahnhöfe mit Missionen und ähnlichen Hilfe-Angeboten ausgestattet. Im Norden sieht es noch kläglich aus.
Der diesjährige Tag der Bahnhofsmission stand unter dem Motto "Das Leben ist eine Kunst". In Bitterfeld hatten dazu Schüler der Comeniusschule Bilder gemalt, die weiterhin in den Räumen der Mission, die die Deutsche Bahn AG kostenlos zur Verfügung stellt, ausgestellt sind. Zudem hatten junge Musiker ein kleines Konzert gegeben.
Die Bahnhofsmission Bitterfeld erreicht man über den Seiteneingang gegenüber dem Parkplatz.
Foto: THOMAS RUTTKE / MZ Christian Pfleger stellt sich bei Jürgen Heinecke und Karin Humyn am Aktionstag Wissenstest. |
Mitteldeutsche Zeitung, Bitterfeld/MZ, Christine Krüger, Ausgabe 21.04.2009