Mit der Saftbahn nach Zörbig
Im Ersten Weltkrieg werden Lebensmittel immer knapper, die Hausfrau muss erfinderisch sein. Ein Glück, dass es die Saftfabriken gibt.
Zörbig 1914: Von Kanonendonner und Granatenzischen ist hier nichts zu hören. Die Front, an der der Erste Weltkrieg tobt, verläuft zum Glück anderswo. Die rund 4000 Einwohner, die das Städtchen hat, sind so zunächst nicht vom Krieg betroffen.
Das ändert sich aber, als die ersten jungen Männer zum Militär eingezogen werden – letztlich sind es Hunderte. Als die ersten Mangelerscheinungen auftreten, Lebensmittel knapp werden, die Leute sich auf sämtlichen Gebieten mit Provisorien behelfen müssen.
Am Ende des Krieges werden die Zörbiger 188 Gefallene aus ihrem Ort beweinen. Zehn Jahre später errichtet man den Toten zum Gedenken ein großes Denkmal aus rotem Porphyr im Park – die Namen der Zörbiger Opfer des Ersten Weltkrieges sind hier auf den Stelen tief in Stein gemeißelt. Entworfen hat es der Bildhauer Paul Horn. An der Stele, erklärt Brigitta Weber, Leiterin des Heimatmuseums Zörbig, befanden sich ursprünglich ein eisernes Kreuz und ein Stahlhelm. „Diese Kriegssymbole wurden in der DDR abgeschlagen“, sagt sie.
Brigitta Weber legt kleine, vorgedruckte Abriss-Zettel auf den Tisch: Militärfahrscheine für die, die einrücken müssen, Lebensmittelkarten für jene, die zu Hause überleben müssen, Reisemarken für alle, die ihre Lebensmittel am Ziel der Reise brauchen. Zugeteilt wird bald so ziemlich alles: Brennstoffe, Kleidung, Schuhe. Alles gibt es „auf Karte“. Sogar Haustiere werden da angerechnet. Und das ist offenbar bitter nötig, damit das Wenige, das da ist, einigermaßen gerecht verteilt werden kann.
Die Bezugsmarken, die gnadenlos nur einen Monat gültig sind, werden übrigens erst 1921/1922 abgeschafft. „Und das System setzte im Zweiten Weltkrieg auch gleich wieder ein“, so die Museumsleiterin. In der DDR wurden die Bezugsberechtigungsscheine, die Marken, erst im Mai 1958 abgeschafft.
1917, so Brigitta Weber, überrollt eine große Hungersnot die hiesige Gegens. Bekannt wird die Zeit als „Kohlrübenwinter“. „Es fehlte an allen Ecken und Enden, Lebensmitteltransporte aus dem Ausland blieben aus“, sagte sie, „man konnte kaum noch die Lebensmittelkarten der Leute bedienen“, Was bleibt einem übrig? Die Phantasie der Zörbiger Hausfrauen ist gefragt wie nie: Brot und Kohlrüben, Kohlrüben und Brot – so abwechslungsreich ist das tägliche Mahl. Das Essen wird gestreckt. Statt Kaffee hat man Zichorie in der Tasse. Immerhin: In Zörbig gibt es wenigstens noch die beiden Saftfabriken, die aus den Rüben Sirup machen. Auch der muss für alles herhalten – als Brotaufstrich, als Süßungsmittel, als Bonbon, als Saft auf Graupen, die mit ein bisschen Phantasie wie Milchreis schmecken. Der Rübensaft übrigens gehört zu dieser Stadt wie der Schnee zum Winter, die Zörbiger Überrübe“ wird heute noch hergestellt.
Von überallher nehmen während der Kriegsjahre die Leute den Weg nach Zörbig, um in den Saftfabriken sich ein Töpfchen Rübensirup zu holen. Hunderte kommen mit dem Zug, der rumpelt von Bitterfeld oder Stumsdorf nach Zörbig. Das gibt der Strecke ihren Namen: die Saftbahn.
Mitteldeutsche Zeitung „ Bitterfelder Zeitung“, Ausgabe 23.04. 2015, von Christine Färber