Die Zörbiger Saftbahn

Pressemeldung vom 05.12.2015


Weihnachten im Stellwerkhäuschen

„Meine Weihnachtsgeschichte“: Peter Hoffmann, Schriftsteller aus Friedersdorf

24. Dezember 1975, Bahnstation „Grube Antonie“ in Bitterfeld. Vor wenigen Augenblicken ist der Personenzug Richtung Sandersdorf abgefahren.

Von meinem Stellwerksfenster aus kann ich sehen, wie die Schlussleuchten des letzten Wagens hinter einer Biegung Richtung Sandersdorf verschwinden. Sonst ist der Bahnsteig um diese Zeit von Hunderten Leuten, die nach der Tagschicht vom benachbarten Werk Nord nach Hause wollen bevölkert. Eben sind vielleicht zehn oder zwölf Fahrgäste eingestiegen. Darunter ein Ehepaar aus der Nachbarschaft.

Als die beiden am Schalterfenster standen um ihre Fahrkarte zu kaufen, konnte ich erkennen, wie sie sich herausgeputzt hatten. Sie mit einem dreiviertellangen, karierten Mantel bekleidet, dazu mit einer Pelzmütze auf dem Kopf. Er mit Hut und einem schneidigen Mantel, dessen breiter Kragen auch zu einem Jackett von Mick Jagger gepasst hätte. Und ich sitze hier in meiner Bahnuniform. Die fahren weg und ich bleibe hier. Ich bleibe hier und die fahren weg. Ja, heute ist Weihnachten, oder auch „Heiliger Abend“, wie man in jenem anderen Teil der Welt sagt, aus dem ich mit meinem Transistorradio gerade eine Grußsendung empfange. „Stille Nacht, heilige Nacht…“. Heute brauche ich kene Angst zu haben, dass der Brigadevorsteher mich mit dem Radio erwischt. An solch einem Tag um diese Zeit ist jeder, der das kann, zu Hause oder anderswo bei seinen Lieben. Eigentlich hätte ich jetzt auch im heimischen Wohnzimmer neben dem Tannenbaum sitzen können, weil ich dienstplanmäßig mit der Frühschicht dran gewesen wäre. Aber Frau Linke aus Greppin, die auch auf „Antonie“ Dienst tut, bat: „Herr Hoffmann, ich habe zwei Kindern, können Sie die Schicht mit mir tauschen?“

Natürlich konnte ich. Als neunzehnjähriger Bengel und obendrein momentan auch noch ohne Freundin sollte es mir eigentlich egal sein, wo ich solch einen Abend verbringe. Aber nun merke ich doch, dass die ungewohnte Einsamkeit in meinem Brustkorb schmerzt.

Gerade, als Trudchen aus Hannover Gerald und Familie in Magdeburg über das Äther grüßen lässt, klingelt der Streckenfernsprecher. Ich drehe das Radiuo leise und nehme die Zugmeldung entgegen. Der Personenzug ist in Sandersdorf angekommen und jener Richtung Bitterfeld fährt gerade ab. Ich kurbele die Schranke herunter, stelle das Radio laut. „O du fröhliche …“ . Ich finde, dass ich überhaupt nicht fröhlich bin, dass mir im Gegenteil eher zum Heulen zumute ist. Ich passe nicht auf dieses Stellwerk, überhaupt nicht in diesen Beruf, der nur eine aufgedrängte Notlösung war. Eigentlich wollte ich mein Abi machen und dann Literatur studieren. Wie zum Hohn ertönt jetzt das Lies: „Lasst und froh und munter sein“. Mit einer gewissen Genugtuung muss ich daran denken, wie ich es „denen“ manchmal gebe: Wie ich trotz strengen Verbotes fast in jeder Schicht wenigstens einen Kaffeegast hier im Dienstraum bewirte oder wie ich heimlich Radio höre.

Ich habe Frau Schlossarek aus der Straße der Wissenschaft dort drüben während des Dienstes schon das Fahrrad repariert und Fräulein Dierschke Muttererde, die beim Bau der Baracken für die Algerier anfiel, mit dem Gummiwagen in den Vorgarten gekarrt. Zum Fahrdienstleiter hatte ich gesagt: „Herr Breiter, ich muss erst mal mein Stellwerk abschließen und Weiche 1 schmieren, die hat Schwergang“.

Als Dank für solche Gesten klopfen die Leute inzwischen an mein Stellwerksfenster und wollen wissen, ob sie mit etwas aus dem Konsum, der sich zweihundert Meter weiter Richtung Wolfen befindet, mitbringen sollen. Und wenn keiner klopft und fragt, dann lasse ich auch schon mal die Schranke herunter und erkundige mich, ob einer der Wartenden zufällig einkaufen geht.

„Aus dir wird nie ein richtiger Eisenbahn“, hatte mal ein Vorgesetzter gesagt. Das tat weh, aber es stimmt. Und jetzt, an diesem Weihnachtsabend, steht für mich wieder einmal fest, dass ich auch kein Eisenbahner sein will. Ich gehöre nicht in ein Stellwerk gesperrt, ich muss unter Menschen! Wie werden meine Leute zu Hause jetzt das Fest verbringen? Und ob die Kinder von Frau Linke gerade ihre Geschenke auspacken?

Drüben, in der Straße der Wissenschaft, sind viele Fenster weihnachtlich beleuchtet. Im Fenster von Fräulein Dierschke leuchtet ein Schwippbogen. Ob sie jetzt mit ihrer betagten Mutter Weihnachtslieder singt? Eine Anwohnerin hatte mir neulich verraten, dass die beiden siebzig und dreiundneunzig Jahre alten Damen gelegentlich in ihrer Wohnung tanzen würden. Ach ja, und dort drüben, wo Martina, die ich mal sehr mochte, mit ihren Eltern wohnt, glaube ich den Schein eines Weihnachtsbaumes hinter den Vorhängen zu erkennen.

Ich stelle das Signal auf „Fahrt“, die Diesellok bringt laut röhrend den Zug in Bewegung. Als die Schlusslichter langsam kleiner werden, kurbele ich die Schrankenbäume nach oben. Noch ein letzter Blick zu den Fenstern da drüber, dann reiße ich mich zusammen. „Ist doch auch bloß ein Tag wie jeder andere“, rede ich mir ein.

Über das Radio grüßt Erni aus Leipzig ihren Bruder Wilhelm in Krefeld. Ich habe mir in einem Topf auf der elektrischen Kochplatte mein „Festessen“ warm gemacht: Braten, Rotkraut und Klöße. Wir Stellwerker bekommen neuerdings Kühlkost in durchsichtigen und portionsweise abgebundenen Plastikschläuchen, die man dann nur noch im Wasser erhitzen muss.

Gerade, als ich die Schere ansetze, um Braten samt Soße auf den Teller klatschen zu lassen, da klopft jemand von der Straße her an meine Stellwerksfenster. Ich öffne und sehe Frau Schlossarek. Die alte Dame sagt: „Sie haben heute Dienst und Sie sollen wissen, dass wie an Sie denken“, und dann reicht sie mir einen mit Weihnachtsmann, Pfefferkuchen, Nüssen und sogar einer Tafel Westschokolade garnierten Teller in meinen Dienstraum.

Bitterfelder Spatz, Ausgabe 5./6. Dezember 2015, Bitterfeld/Friedersdorf (ph) Ausgabe 49

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